Schon solange ich zurück denken kann interessiere ich mich fürs Reisen und liebe es fremde Länder und Kulturen kennenzulernen. Daher fuhr ich nach dem Abitur mit meinem Fahrrad nach Rom und verbrachte das folgende Jahr in Israel. Dort arbeitet ich in einem Kinderkrankenhaus und hatte die Möglichkeit neben der Arbeit Israel, Palästina, Ägypten und Jordanien zu bereisen.
Um meine Wartezeit auf einen Medizinstudienplatz sinnvoll zu nutzen machte ich im Anschluss ein Pflegepraktikum im Weender – Krankenhaus auf einer Überwachungsstation und arbeitete nebenbei noch in der häuslichen Intensivpflege.
Danach war für mich klar, ich wollte noch einmal mit dem Fahrrad verreisen: ich entschied mich für die Zielstadt Lissabon. Ich wollte auf dieser Radreise jedoch nicht nur mich und mein liebes Fahrrad bewegen, sondern auch etwas für jene Menschen, die unsere Unterstützung brauchen. Deshalb entschied ich die Reise mit einem Spendenprojekt für Ärzte ohne Grenzen zu verbinden.
Lissabon will erkämpft werden
Am 5. Mai 2019 war es dann endlich soweit und ich startete meine Radreise in Göttingen von zu Hause. Im strömenden Eisregen fuhr ich los, keine 50 km nach der Abfahrt musste ich im Regen den Hinterreifen meines neuen Fahrrades flicken und die Nächte im Zelt waren äußerst unerholsam aufgrund der feuchten Kälte. Mit einer Eisschicht auf meinem Zelt hatte ich vor meiner Abfahrt nicht gerechnet. Offenbar hatten die Menschen die mich unterwegs sahen etwas Mitleid mit mir, denn Übernachtungsmöglichkeiten, heißer Tee, Süßigkeiten und weitere Nettigkeiten wurden mir angeboten. Hiermit möchte mich ausdrücklich für ihre Unterstützung bedanken, denn klar ist, ohne ihre Hilfe hätte ich die nass-kalten Tage nicht gesund überstanden.

Von Göttingen ging es über Koblenz nach Luxemburg und von dort aus weiter nach Frankreich. Nach 11 Tagen und etwa 1300km Strecke erreichte ich mein erstes größeres Zwischenziel der Reise: Limoges. Dort legte ich eine Fahrpause ein und besichtigte die Stadt mit ihrer bemerkenswerten Bauten und Gärten.


Sintflut und Hungergefühle
Von Limoges aus stieg die Vorfreude auf die Pyrenäen, doch die unerwarteten Regenfälle ließen mich noch einige Tage in Sauveterres de Bearn auf dem Campingplatz verweilen.
Es schüttete ohne Unterlass, sodass sich vor meinem Zelt eine richtig tiefe Pfütze bildete und ein nahegelegenes Bächlein zu einem reißenden Strom anschwoll. Unter diesen Bedingungen hielt ich es für angemessen, mit der Weiterfahrt noch etwas abzuwarten. Auf dem Campingplatz wurde ich mehrfach von Wohnwagenfahrern hineingebeten, wo ich mich aufwärmen konnte und meine durchnässten Sachen trocknen konnte.



Einsamkeit und abgelegene Landschaften
Als der Regen etwas nachließ ging es weiter, über eine Passstraße und dann weiter durch Nordspanien. Obwohl ich die Pyrenäen schon lange hinter mir gelassen hatte blieb das Terrain in Spanien bergig und mit teilweise heftig steilen Anstiegen versehen. Landschaftlich war es aber ein absoluter Traum und die komplette Gegend bis zur portugiesischen Grenze war unerwartet einsam und dünn besiedelt. Nach knapp 3 Wochen und 2500km Strecke überquerte ich diese abends im letzten Licht in völliger Einsamkeit auf einer kleinen Passhöhe.






Innerer Frieden
Das Leben auf dem Rad ist schlichter. Unterwegs hatte ich nicht mehr meine alltäglichen Dinge im Kopf, sondern nur noch die drei wesentlichen Themen: Trinken, Essen und einen Schlafplatz finden. Unterwegs geht um die Grundbedürfnisse des Lebens und dies macht aus einer solchen Reise auch das eigentliche Abenteuer. Nach kurzer Zeit schon merke ich, wie ich unterwegs ruhiger und konzentrierter werde. Gleichzeitig lebe ich unterwegs immer sehr minimal. Ich esse das, was ich dabei habe und trage die Dinge die ich mitgenommen habe und gerade sauber sind – da hat man meist nicht viel Auswahl.
3 Tage nach der Grenzüberquerung stand ich plötzlich in der bezaubernden Küstenstadt Porto und das Ziel der Reise war auf einmal so unglaublich nah. Es fühlte sich an als sei die Zeit nur so wie im Flug vergangen.


Brasilianische Gastfreundschaft
In Porto verbrachte ich ein paar Tage und lernte dort Fernando und Miriam aus Brasilien kennen, die dort auf einem Psychoanalyseseminar teilnahmen. Miriam erkannte von weitem „dass ich mein komplettes Haus mit mir herum trug“ wie eine Schildkröte. Das fand sie so beeindruckend, dass die beiden mich ansprachen und wir den folgenden Tag zu dritt verbrachten.

Es ist wahr, wenn ich mit dem Rad unterwegs bin, fühle ich mich manchmal ein bisschen wie eine Schildkröte. Nicht aufgrund der langsamen Geschwindigkeit, sondern weil ich mein Haus dabei habe. Ich bin frei und flexibel, kann jederzeit pausieren, um zu essen oder in den Bergen die atemberaubende Aussicht zu genießen. Ich bin nicht abhängig von Bus oder Bahn, kann selber entscheiden wann und wohin ich los fahre. Ich komme an Plätze, die ich sonst nie gesehen hätte.
Endlich am Ziel?
Am 31. Mai und nach 3276 km erreichte ich spät abends Lissabon, ein überwältigendes Gefühl. In Lissabon traf ich Verwandte von uns, die dort lebten und lustigerweise ergab sich ein weiteres unerwartetes Wiedersehen mit Aliénor, der jüngeren Schwester meiner französischen Freundin Blanche. Blanche lebt zurzeit bei meinen Eltern in Göttingen um ein Praktikum auf dem Bauernhof zu machen.

Durch die vergangenen Wochen war ich so in meinem eigenen Rhythmus und innerlich so zufrieden, dass ich eigentlich schon vor meiner Ankunft in Lissabon beschlossen hatte die Tour etwas fortzusetzen. Nach einer ordentlichen Pause fuhr ich nach Tarifa, den südlichsten Punkt Europas. Am folgenden Morgen nach meiner Ankunft überquerte ich äußerst euphorisch die Straße von Gibraltar auf einem kleinen Schiff.
Mit dem Fahrrad in Afrika
Keine Stunde nach dem Ablegen im Hafen befand ich mich mit meinem lieben Fahrrad in der Hafenstadt Tanger in Marokko.

Von Tanger führte mich meine Route erst in die Hauptstadt Rabat und von dort nach Casablanca und weiter bis nach Marrakesch und schließlich bis nach Agadir. Afrika war eine ganz neue spannende Herausforderung für mich. Auf so einer langen Reise hatte ich die innere Ruhe und Zeit nachzudenken und zu reflektieren – Reisen verändert. Man hat die Chance sich intensiver und besser kennenzulernen. Darüber hinaus sammle ich Menschenkenntnis, gewinne Geduld und Charakterstärke insbesondere durch die vielen Gespräche und Begegnungen mit den verschiedensten Menschen aber auch durch die stetige körperliche Anstrengung, Eigenverantwortung und das Alleinsein.







Durch das gemächliche Reisetempo komme ich zwar stetig vorwärts, habe aber ebenfalls die Zeit mir unterwegs alles ganz genau anzusehen. Ich radelte durch kleine Dörfer, die der normale Busreisende nur mit einem flüchtigem Blick durch die Scheibe wahr nimmt. Ich wählte mehrfach wenig befahrene Straßen, wo es keine anderen Touristen mehr gab.



Die Menschen, welche ich unterwegs traf waren ausgesprochen freundlich und interessiert. Auf dem Fahrrad lernt man meiner Erfahrung nach Land viel authentischer kennen. Viele Marokkaner hatten großes Interesse mir ihr Land zu zeigen, luden mich ein, veranschaulichten mir ihre Lebensweisen und kochten landestypisches Essen für mich. Im Anschluss tauschten wir uns über alle erdenklichen Themenbereiche aus. Ich hakte keine Sehenswürdigkeiten auf einer Liste ab, sondern lernte auf dieser Reise ein völlig neues Land, seine Menschen und Kulturen kennen.


Die Intensität des Radreisens
Natürlich stellte es mich auch vor besondere Herausforderungen, denn mit dem Fahrrad ist man jeder erdenklichen Situation komplett ausgesetzt, man kann nicht einfach wie beim Auto die Tür zu machen und das Drumherum vergessen.

Dies stellte eine ganz besondere Nähe zwischen mir und dem Land her. In sehr armen Regionen war es jedoch zeitweise recht schwer für mich, das Elend der Leute über lange Zeit hinweg zu sehen, in dem Wissen, ihnen nicht wirklich helfen zu können. Es stimmte mich streckenweise sehr traurig immer wieder in die großen Kinderaugen zu blicken, die am Straßenrand bettelten oder auf ein paar Tiere aufpassten, die zwischen Müll und Staub nach etwas zu fressen suchten. Ab und zu schenkte ich ihnen Bonbons, Obst, einen Trinkjoghurt oder andere Lebensmittel, die ich dabei hatte, doch es änderte nichts daran, dass ich mich in diesen Momenten unglaublich reich fühlte und mich gleichzeitig dafür schämte.


Das Gute im Menschen
Während meine Geldbörse auf dem Weg immer kleiner zusammenschmolz fühlte ich mich innerlich von Tag zu Tag reicher. Reich an Erinnerungen, an die ich mich mein Leben lang entsinnen werde und keiner kann mir diese je wieder nehmen. Sie haben einen unsagbaren Wert für mich.
Ich erinnere mich noch genau, wie am ersten Tag in Marokko ein Auto neben mir hielt, das Fenster öffnete und mir eine Flasche Orangensaft entgegenstreckte. Ich nahm das Getränk und wollte mich bedanken, doch in diesem Moment schließt das Fenster wieder und der Fahrer fährt weiter. Ohne dass ich auch nur die Chance hatte zu begreifen was eigentlich geschah oder mich gar zu bedanken. Da unsere alltäglichen Nachrichten hauptsächlich aus schrecklichen Meldungen bestehen, verliert man manchmal den Blick für Positives. Unterwegs lernte ich immer wieder das Gute im Menschen zu sehen. Ich traf so viele tolle und herzensgute Leute, wurde zu so vielen Dingen eingeladen und mir wurde so oft geholfen.

Das macht mich glücklich und dankbar. Die Erfahrungen und Begegnungen werden bleiben und auch die Landschaften haben sich eingeprägt, da sie nicht nur an mir vorbeizogen, sondern weil ich sie selbst erkämpft habe – Meter für Meter.

Das große Wiedersehen
Die Weiterreise nach Marokko stellte für mich ein absolutes Highlight der Tour und eine riesige Bereicherung dar. Der Rückweg verlief unter teils enormer Hitze und etwas Zeitdruck über Madrid, Paris, Brüssel und Amsterdam.





In Amsterdam traf ich meinen Bruder Milan und meinen Vater wieder, welche die Sommerferien mit dem Fahrrad in Schottland verbracht hatten.

Gemeinsam bestritten wir die knapp letzten 500 km gemeinsam bis nach Hause, wo für mich nach einer 9498km langen, abenteuerlichen Reise nun ein völlig neues Leben beginnt.